Frisch aus der Neuköllner Mühle: die Bäckerei Mehlwurm

In der Bio-Vollkornbäckerei Mehlwurm in der Pannierstraße 2 ist man seit fast vier Jahrzehnten seinen Idealen treu geblieben – und hat sich gleichwohl an veränderte Geschmäcker angepasst

Fotos: Birgit Leiß

Nougatcroissants, Franzbrötchen, Cranberry-Scones, Rote Beete-Walnuss-Brot - die Verkaufstheke lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Allein 80 Kuchensorten sind im Sortiment, von Apple Pie über Lemon-Curd-Quark bis zur Birnen-Trüffel-Torte. Die  Müsli-Freaks der 1980er Jahre hätten über diese Auslage vermutlich den Kopf geschüttelt. Körnig und grob mussten Brot und Brötchen in den Anfangszeiten der Bio-Szene sein. Zucker war verpönt, gesüßt wurde allenfalls mit Honig. Heute gibt’s bei Mehlwurm auch helles Baguette – und das ist auch gut so, findet  Andreas Striegnitz vom achtköpfigen Kollektiv: „Vollkorn-Ciabatta zum Beispiel schmeckt einfach nicht.“ Die Entscheidung, Weißmehl-Produkte mit aufzunehmen, sei durchaus umstritten gewesen. Aber nach wie vor sind 90 Prozent der Brote Vollkorn, beim Kuchen macht man Kompromisse. 100 % Bio ist sowieso alles. 

Gesundes Essen, gesunde Arbeitsbedingungen

Mehlwurm ist eine der ältesten Vollkornbäckereien in Berlin und wurde 1983 von einem Kollektiv aus der linksalternativen Szene gegründet. Der Laden in der Pannierstraße 2, zwischen Sonnenallee und Donaustraße, wurde im gleichen Jahr eröffnet. „Nur einer hatte damals Ahnung vom Backen, der Rest hatte ein abgebrochenes Studium, war Hausbesetzer oder ähnliches – es waren eben die wilden 80er,“ erzählt Bibliothekar Striegnitz, der 1991 dazugestoßen ist. Den Bio-Pionieren ging es um gesundes Essen und gesunde Arbeitsbedingungen – soweit das bei der anstrengenden  Arbeit in der Backstube möglich ist. Noch heute ist Mehlwurm ein Betrieb in Selbstverwaltung, sämtliche Entscheidungen werden auf dem 14-tägigen Plenum getroffen. Alle 30 Mitarbeiter*innen bekommen den gleichen Stundenlohn, ob im Verkauf, in der Backstube oder für Reinigungsarbeiten. Andreas Striegnitz erzählt, dass die Pannierstraße 2 früher einem Fleischermeister gehörte, der sein Geschäft in der Sonnenallee hatte. Ab und zu kam er persönlich vorbei. Wenn dann nur Frauen in der Backstube waren, meinte er: 'Niemand da heute?'. Damals wurde erst um 6 Uhr angefangen zu backen. Die Bioläden wurden dann eben erst um die Mittagszeit mit Brot und Brötchen beliefert.

Im Keller mahlen zwei Mühlen 

Heute geht es in der großen Backstube hinter dem Verkaufsraum schon mitten in der Nacht los. Und anders als früher arbeiten hier ausschließlich ausgebildete Bäcker*innen. Gebacken wird wie vor Hunderten von Jahren. Jedes Brot wird von Hand geformt und bekommt die nötige Zeit, um zu reifen. Auf Zusatzstoffe wie Stabilisatoren oder Geschmacksverstärker wird komplett verzichtet. Und wer hätte gedacht, dass im Keller des Wohnhauses sogar zwei Mühlen stehen, die den Roggen und Weizen täglich frisch mahlen? Für die Schulkassen, die in Vor-Corona-Zeiten oft zur Besichtigung kamen, sind sie jedenfalls eine Attraktion – auch wenn die lauten Maschinen nicht so malerisch aussehen wie im Märchen. Über eine Siloanlage wird das gemahlene Getreide nach oben in die Backstube transportiert. 

Die Nachbarschaft hat sich verändert

Andreas Striegnitz berichtet, dass sie sogar noch Stammkunden aus den Anfangsjahren haben.  Ansonsten sei die Kundschaft bunt gemischt, vom Porschefahrer, der vor der Tür parkt, bis zur Omi, die sich einmal die Woche ein halbes Sonnenblumenbrot leistet. Die geringe Kaufkraft in Neukölln sei schon ein Problem: „Unsere Preise sind eine Gratwanderung. Zucker ist ein billiger Geschmacksträger und wird daher bei konventionellen Kuchen großzügig verwendet. Wir nehmen nur gute Rohstoffe und viele Früchte,“ erklärt Striegnitz. Vor 10, 15 Jahren habe man mal überlegt, wegzuziehen. Doch dann kam der „Kreuzkölln-Boom“ und der Umsatz ging wieder nach oben. „Jetzt beginnt es sich, schon wieder zu drehen, viele unserer jungen Kunden müssen wegziehen“, hat Andreas Striegnitz beobachtet. Mehr Platz würde er sich wünschen. Und Menschen, die für gute handwerkliche Qualität auch ein paar Cent mehr bezahlen.